Warum wir fühlen, wie wir fühlen und wie das Nervensystem heilt

Ein Blick unter die Motorhaube unserer Psyche: Wie die Polyvagal-Theorie erklärt, was in tiefen therapeutischen Prozessen wirklich passiert.

In der therapeutischen Arbeit erlebe ich immer wieder, wie Menschen, die unter Ängsten, Erstarrung oder innerer Unruhe leiden, plötzlich aufatmen können. Es sind Momente echter Durchbrüche und tiefen Kontakts. Lange Zeit haben wir in der Psychotherapie – und besonders in der Gestalttherapie – intuitiv gewusst: Kontakt heilt. Das Hier und Jetzt ist der Schlüssel.

Aber warum ist das so? Warum löst sich eine festsitzende Angst manchmal in einem einzigen Moment echter Begegnung auf? Und warum bleiben wir manchmal trotz aller kognitiven Einsicht in alten Mustern stecken?

Die Antwort liegt nicht nur in unserer Psyche, sondern in unserer Biologie. Genauer gesagt: In unserem Autonomen Nervensystem. Hier hat uns die Polyvagal-Theorie (entwickelt von Dr. Stephen Porges) ein wertvolles Erklärungsmodell geliefert – eine physiologische Landkarte für das, was wir in der Praxis täglich erleben.

In diesem Artikel möchte ich Sie mitnehmen in die faszinierende Welt Ihres Nervensystems. Ich zeige Ihnen, warum Ihre Reaktionen keine „Fehler“ sind, sondern intelligente biologische Schutzmechanismen – und wie ich dieses moderne Wissen nutze, um therapeutische Prozesse präziser und sicherer zu begleiten.

 

Wir sind auf Überleben programmiert (Die Hierarchie der Sicherheit)

Um zu verstehen, wie wirkliche Veränderung passiert, müssen wir aufhören, unseren Kopf (den Kortex/Verstand) als den alleinigen Chef zu betrachten. Der wahre Entscheider in Stresssituationen ist unser Stammhirn und unser Autonomes Nervensystem (ANS). Seine primäre Aufgabe ist simpel, aber vital: Das Überleben sichern.

Die Polyvagal-Theorie beschreibt, dass unser Nervensystem nicht nur binär funktioniert – also nicht nur „An“ (Stress) oder „Aus“ (Entspannung) kennt. Es ist wesentlich komplexer aufgebaut. Es scannt permanent die Umgebung sowie das Körperinnere nach Gefahr – ein Prozess, der Neurozeption genannt wird. Das Entscheidende dabei ist: Dies passiert weit unterhalb Ihrer bewussten Wahrnehmung. Bevor Sie den Gedanken fassen „Hier ist es unheimlich“, hat Ihr Körper bereits reagiert.

Stellen Sie sich Ihr Nervensystem wie eine interne Ampel mit drei Farben vor. Je nachdem, welche Farbe gerade aktiv ist, verändert sich Ihre gesamte Realität: wie Sie denken, wie Sie fühlen, wie Sie hören und wie Sie mit anderen Menschen in Kontakt treten können.

 

🟢 GRÜN: Der Ventrale Vagus (Sicherheit & Soziales Engagement)

Das ist der Zustand, in dem wir uns wohlfühlen, der „Idealzustand“ für das menschliche Miteinander.

 

  • Biologie: Der entwicklungsgeschichtlich „neueste“ Zweig des Vagusnervs ist aktiv. Er wirkt wie eine Bremse auf das Herz und reguliert es sanft nach unten.
  • Erleben: Sie sind entspannt, aber wach und aufmerksam. Sie können Blickkontakt halten, Stimmen in ihrer feinen Nuancierung wahrnehmen und sich in andere einfühlen. Sie fühlen sich verbunden und „in Ihrer Mitte“.
  • In der Therapie: Das ist der Raum, in dem Heilung stattfindet. Nur in diesem physiologischen Zustand können wir neue Erfahrungen machen und integrieren. Die Gestalttherapie nennt dies oft den „Vollen Kontakt“. Die Wissenschaft bestätigt: Ohne diesen biologischen „grünen“ Zustand ist keine nachhaltige soziale Interaktion und keine tiefe therapeutische Arbeit möglich.

 

🟡 GELB: Der Sympathikus (Mobilisierung & Kampf/Flucht)

Das System wittert Gefahr. Die Ampel springt auf Gelb. Dies ist der Modus der Aktion.

  • Biologie: Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol werden ausgeschüttet. Blut fließt aus den Organen in die Muskeln. Der Herzschlag steigt rapide an.
  • Erleben: Wir werden unruhig, vielleicht aggressiv oder ängstlich. Der Fokus verengt sich massiv (der sogenannte „Tunnelblick“). Wir hören weniger auf die Zwischentöne, sondern scannen die Umgebung nach Bedrohung.
  • Der Sinn: Energie bereitstellen, um gegen eine Gefahr zu kämpfen oder vor ihr wegzurennen. Das ist keine Störung, sondern eine gesunde, lebensrettende Reaktion auf akuten Stress!
  • Das Problem: Wenn wir diese massive Energie nicht entladen können (z.B., weil wir als Kind in einer bedrohlichen Situation weder kämpfen noch fliehen konnten), bleibt sie im System „stecken“. Wir bleiben dauerhaft „auf dem Sprung“, sind chronisch reizbar, schlaflos oder gestresst, obwohl die Gefahr längst vorbei ist.

 

🔴 ROT: Der Dorsale Vagus (Immobilisierung & Shutdown)

Wenn Kampf oder Flucht objektiv nicht möglich sind (weil die Bedrohung zu groß ist oder wir zu klein/hilflos sind), zieht das Nervensystem die biologische Notbremse.

 

  • Biologie: Der „alte“, primitive Zweig des Vagusnervs übernimmt das Kommando. Der Stoffwechsel wird heruntergefahren (ähnlich wie beim Totstellreflex bei Tieren). Die Herzfrequenz sinkt, die Schmerzwahrnehmung wird gedämpft.
  • Erleben: Wir fühlen uns taub, leer, kraftlos, depressiv oder dissoziiert („nicht ganz da“, wie im Nebel). Der Körper fühlt sich schwer an, jede Bewegung kostet Kraft.
  • Der Sinn: Schmerzbetäubung und extremes Energiesparen als letzter Ausweg zum Überleben in einer ausweglosen Situation.
  • In der Praxis: Viele Menschen verwechseln diesen Zustand mit „Ruhe“, weil sie sich äußerlich nicht bewegen. Aber biologisch ist es eine Hochenergie-Erstarrung. Stellen Sie sich ein Auto vor, bei dem ein Fuß das Gaspedal voll durchdrückt (Sympathikus), während der andere Fuß voll auf der Bremse steht (Dorsaler Vagus). Das kostet den Organismus ungeheure Kraft.

 

Warum „Reden“ allein das Nervensystem oft nicht erreicht

Das Spannende – und für viele auch Entlastende – an dieser wissenschaftlichen Sichtweise ist: Diese Zustände (Gelb und Rot) sind autonom. Sie können sich nicht einfach „entscheiden“, sich sicher zu fühlen, wenn Ihr Stammhirn Gefahr meldet. Der kognitive Entschluss kommt gegen die biologische Überlebensreaktion nicht an.

Das erklärt, warum gut gemeinte Ratschläge wie „Beruhigen Sie sich doch mal“ oder „Es ist doch objektiv gar nichts los“ bei Menschen mit Traumaerfahrung oft nicht funktionieren. Im Gegenteil, sie erzeugen oft Scham („Warum kriege ich das nicht hin?“). Trauma ist – neurobiologisch betrachtet – keine Geschichte aus der Vergangenheit, sondern ein physiologischer Zustand im Hier und Jetzt. Das Nervensystem reagiert im „Dorsalen Vagus“ (Erstarrung) oder „Sympathikus“ (Alarm), so als ob die Bedrohung von damals gerade jetzt stattfindet.

 

Die Brücke zur Gestaltarbeit

Die Gestalttherapie betont schon immer die Wichtigkeit des „Hier und Jetzt“. Wir müssen spüren, was ist. Die Polyvagal-Theorie liefert uns nun ein schlüssiges neurobiologisches Erklärungsmodell dafür: Wir können ein traumatisiertes Gehirn oft nicht über kognitive Argumente und Analysen (Top-Down) umstimmen. Wir müssen dem Körper (Bottom-Up) die Erfahrung von Sicherheit geben. Erst wenn der Körper signalisiert „Gefahr vorbei“, kann der Verstand folgen.

 

Wie ich diese Erkenntnisse in meiner Praxis nutze

Ich integriere dieses tiefe Verständnis für das Nervensystem in meine Arbeit in der Praxis. Es verändert nicht unbedingt radikal, was wir tun, aber es verfeinert massiv, wie wir es tun und wie wir die subtilen Signale Ihres Körpers lesen und verstehen.

Hier sind die zentralen Aspekte, wie die neurobiologische Perspektive meine therapeutische Begleitung prägt:

 

Co-Regulation: Ein biologischer Anker sein

Die moderne Traumaforschung geht davon aus: Säugetiere (und Menschen sind Säugetiere) können sich nicht gut alleine regulieren, besonders nicht in frühen Lebensjahren oder unter hohem Stress. Wir brauchen ein anderes Nervensystem, an das wir uns „ankoppeln“ können. In unseren Sitzungen fungiere ich oft als dieser biologische Anker. Wenn Sie in die Angst (Sympathikus) rutschen oder in die Erstarrung (Dorsal) gleiten, ist es meine Aufgabe, verankert im „Grünen Bereich“ (Ventraler Vagus) zu bleiben. Durch meine Stimmlage, meinen Atemrhythmus und meine ruhige Präsenz sende ich Ihrem Nervensystem unbewusst Signale der Sicherheit. Ihr System lernt durch Resonanz: „Es ist sicher, hier zu sein. Ich muss nicht allein kämpfen.“

 

Neurozeption lesen: Die Sprache ohne Worte verstehen

Oft erzählen Klienten von schmerzhaften Erlebnissen mit einer ganz ruhigen Stimme, aber ich beobachte, wie der Hals fleckig wird, die Pupillen sich weiten oder der Atem plötzlich stockt. Der Körper erzählt eine andere Geschichte als die Worte. Früher hätte man in der klassischen Therapie vielleicht gesagt: „Erzählen Sie weiter.“ Heute, mit dem Blickwinkel der Polyvagal-Theorie, sage ich vielleicht: „Einen Moment bitte, lassen Sie uns kurz innehalten. Ihr Körper zeigt gerade eine starke Reaktion. Spüren Sie, wie Ihr Herz schneller schlägt oder sich der Magen zusammenzieht?“ Wir holen die unbewusste Reaktion ins Bewusstsein. Wir validieren die körperliche Wahrheit, statt sie zu übergehen. Das schafft Vertrauen zum eigenen Körper.

 

Titration: Heilung in kleinen Dosen

Ein Nervensystem, das lange im Überlebensmodus war, kann von zu viel Gefühl („Katharsis“) schnell überflutet werden. Wenn wir zu schnell zu tief gehen, schaltet das System wieder ab – das kann retraumatisierend wirken. Ich arbeite daher nach dem Prinzip der Titration (ein Begriff aus der Chemie: tröpfchenweise Hinzufügen). Wir berühren den Schmerz oder die Wut nur so lange, wie Ihr Nervensystem stabil bleiben kann – wir bleiben im sogenannten „Window of Tolerance“ (Stresstoleranzfenster). Sobald es zu viel wird, pendeln wir zurück in die Sicherheit und zu Ihren Ressourcen. So bauen wir langsam, wie beim Muskeltraining, die Kapazität Ihres Nervensystems auf, intensive Gefühle zu halten, ohne „abzuschalten“ oder zu explodieren. Wir trainieren den „Ventralen Vagus“.

 

Den Zyklus vollenden

Tiere in der Wildnis schütteln sich nach einer Gefahr („Zittermechanismus“), um die mobilisierte Stressenergie physisch loszuwerden. Wir Menschen haben gelernt, das oft zu unterdrücken („Reiß dich zusammen“, „Zitter nicht“). In meiner Praxis geben wir dem Körper Raum, das zu tun, was er damals in der traumatischen Situation nicht tun konnte. Das kann ein Zittern sein, ein tiefes Aufatmen, eine Bewegung der Abwehr mit den Händen oder eine Laufbewegung der Beine – aber diesmal ganz bewusst, oft in Zeitlupe und in Sicherheit. Wenn diese gebundene Energie frei wird, kehrt oft eine tiefe, natürliche Ruhe ein, die rein kognitiv nicht herstellbar wäre.

 

Was bedeutet das konkret für Sie?

Wenn Sie zu mir in die Praxis kommen, betrachten wir Ihre Themen nicht als „Defizite“, „Krankheit“ oder „Charakterschwäche“. Ob Sie Schwierigkeiten haben, Grenzen zu setzen, sich in Beziehungen verlieren oder sich oft innerlich leer fühlen – wir schauen durch die wertfreie Brille des Nervensystems darauf:

 

  • Das Verhalten, das Sie heute stört, war früher eine geniale Lösung Ihres Nervensystems, um Sie zu schützen.
  • Ihre Erstarrung war keine Schwäche, sondern biologische Intelligenz, um überwältigenden Schmerz auszublenden.
  • Ihre Aggression war der gesunde Versuch, sich zu mobilisieren und für sich einzustehen.

 

Wir würdigen diese Überlebensstrategien. Wir kämpfen nicht gegen sie an, denn sie haben Ihnen das Leben gerettet.

Indem wir verstehen, wo Ihr Nervensystem gerade „wohnt“ (Rot, Gelb oder Grün), können wir behutsam neue Wege bahnen. Wir nutzen die bewährten Methoden der Gestalttherapie – den Dialog, den Kontakt, das Ausprobieren –, aber wir tun es mit einem feinjustierten „Navigationssystem“, das sicherstellt, dass wir Ihren Körper immer mit an Bord haben.

 

Fazit: Vom bloßen Überleben zurück ins Leben

Die Polyvagal-Theorie ist für mich keine neue „Methode“, die alles andere ersetzt. Sie ist das fundierte Modell, das Methoden wie die Gestalttherapie noch wirksamer und verständlicher macht. Sie nimmt die Scham und die Schuld („Warum bin ich so?“).

Sie erklärt, dass es eine biologische Reaktion ist. Das Ziel meiner Arbeit in der Praxis ist es, Ihrem Nervensystem wieder beizubringen, flexibel zu schwingen. Dass Sie sich aufregen können (Gelb), wenn es nötig ist, und sich zurückziehen können (Rot), wenn Sie Ruhe brauchen – aber dass Sie immer wieder zurückfinden in den Zustand von Verbindung, Sicherheit und Lebendigkeit (Grün).

Genau dort findet das eigentliche Leben statt.

 

Kleines Lexikon der Nervensystem-Begriffe

Damit Sie auch komplexe Zusammenhänge besser verstehen, hier die wichtigsten Begriffe kurz erklärt:

  • ANS (Autonomes Nervensystem): Der Teil des Nervensystems, den wir nicht willentlich steuern können. Es regelt Herzschlag, Verdauung, Atmung und vor allem unsere Stressreaktionen.
  • Vagusnerv: Der wichtigste Nerv des parasympathischen Systems (Entspannung). Er verbindet das Gehirn mit fast allen Organen. Die Polyvagal-Theorie unterscheidet hier zwei Äste (den neuen ventralen für soziale Sicherheit und den alten dorsalen für Notabschaltung).
  • Neurozeption: Die unbewusste Risikoeinschätzung unseres Nervensystems. Dieser Scan passiert vor dem bewussten Denken.
  • Window of Tolerance (Stresstoleranzfenster): Der Bereich an Erregung, den wir aushalten können, ohne die Kontrolle zu verlieren oder abzuschalten. Ziel der Therapie ist es, dieses Fenster zu erweitern.
  • Co-Regulation: Die biologische Notwendigkeit, sich durch andere Menschen zu beruhigen. Wir sind Rudeltiere; unser Nervensystem braucht das „Du“, um sich sicher zu fühlen.
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Patrick Raulin

Als Heilpraktiker für Psychotherapie und Gestalttherapeut (IGE) unterstütze ich Menschen bei Depressionen, traumatischen Erlebnissen, Angststörungen sowie Anpassungsstörungen. In meiner Praxis für Psychotherapie Rosenheim (HeilprG) & Coaching begleite ich zudem auch im beruflichen Kontext, bei zwischenmenschlichen und strukturellen Herausforderungen.

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