In der therapeutischen Fachwelt vollzieht sich gerade ein radikaler Perspektivwechsel: die neuro-affirmative Therapie. Sie wird oft als der große Wurf gefeiert, der endlich das Ende des „Reparieren-Wollens“ einläutet.
Wenn ich als Gestalttherapeut diese Debatten verfolge, muss ich schmunzeln. Denn im Kern ist das, was jetzt als „neuro-affirmativ“ bezeichnet wird, die biologisch und soziologisch fundierte Bestätigung unserer eigenen Haltung. Wir Gestalttherapeuten hatten nie das Ziel, Menschen „gesund zu machen“ im Sinne von „normgerecht“. Unser Fokus lag immer auf dem Wie – dem Gewahrsein des Hier und Jetzt und der Würdigung dessen, wie wir in Kontakt treten.
Doch die neuen Erkenntnisse aus der Neurodiversitäts-Forschung sind mehr als nur eine Bestätigung. Sie geben uns ein präziseres Vokabular und ein tieferes neurologisches Verständnis, um komplexe Leiden wie Depression, Trauma und Panikattacken ehrlicher und effektiver zu begleiten.
In diesem Artikel möchte ich teilen, warum die Gestalttherapie die natürliche Heimat für diese Haltung ist und wie ich meine Arbeit an der Kontaktgrenze dadurch verfeinert habe.
Was ist Neuro-Affirmativität? Ein notwendiger Blickwechsel
Um zu verstehen, wie diese Perspektive unsere Arbeit bereichert, lohnt sich eine klare Definition:
Neurodiversität
Dieser Begriff, ursprünglich von der Soziologin Judy Singer geprägt, besagt: Neurologische Variationen (wie Autismus, ADHS, Dyslexie, Hochsensibilität) sind natürliche und wertvolle Formen des menschlichen Gehirns. Sie sind keine „Fehler“ in der Entwicklung, sondern Ausdruck biologischer Vielfalt – so natürlich wie unterschiedliche Körpergrößen oder Persönlichkeitstypen.
Die neuro-affirmative Haltung
Daraus leitet sich eine klare Haltung ab: Die Bejahung (Affirmation) dieser Unterschiede. Es ist der bewusste Abschied vom Pathologie-Modell („Was ist falsch mit dir?“) hin zum Differenz-Modell: > „Wie funktioniert dein System? Und wie können wir dein Umfeld so gestalten, dass du in deiner Art aufblühen kannst?“
Für mich bedeutet das: Ich muss mein ethisches Fundament als Gestalttherapeut nicht ändern. Aber ich erhalte endlich wissenschaftliche Erklärungen für das, was sich in der Begegnung mit meinen Klienten zeigt.
Warum die Gestalttherapie das schon immer wusste
Die Grundprinzipien der Gestalttherapie haben die neuro-affirmative Haltung quasi vorweggenommen. Zwei Beispiele:
Schöpferische Anpassung: Der Ursprung des „Masking“
Einer unserer zentralen Begriffe ist die Schöpferische Anpassung. Jedes Verhalten, mag es von außen noch so „gestört“ wirken, war ursprünglich eine kreative, intelligente Lösung des Organismus auf eine Umwelt, die seine Bedürfnisse nicht erfüllte.
Ein neurodivergenter Mensch (z. B. spät diagnostizierte Frauen mit Autismus oder Erwachsene mit ADHS) vollbringt oft jahrelang eine enorme Anpassungsleistung: das Masking (die soziale Tarnung). Man unterdrückt den Bewegungsdrang (Stimming), zwingt sich zu Blickkontakt oder kopiert soziale Skripte, um nicht aufzufallen.
Die neuro-affirmative Sicht bestätigt: Masking ist die ultimative Schöpferische Anpassung an eine Welt, die Anderssein oft bestraft. Meine Aufgabe ist es nicht, dieses Masking zu „therapieren“, sondern im sicheren Feld der Begegnung die Erlaubnis zu geben, die Maske fallen zu lassen. Veränderung passiert, wenn man wird, was man ist – nicht, wenn man versucht, anders zu sein.
Von der Kontaktstörung zur Kontaktfunktion
Wir sprechen in der Gestalttherapie ungern von „Störungen“. Wir fragen: „Wie organisieren Sie gerade Ihren Kontakt? Was ist die Funktion dieser Unterbrechung?“
Die neuen Erkenntnisse liefern die biologische Erklärung für diese Funktionen:
- Eine Deflektion (Ausweichen, Abschweifen, Witze machen) bei einem ADHS-Klienten ist oft kein Widerstand gegen die Therapie. Es ist die dringende Notwendigkeit, einen zu hohen Spannungspegel zu senken (Dopamin-Suche), bevor das System überhitzt.
- Eine Retroflektion (Energie gegen sich selbst richten, sich klein machen) ist oft Schutz vor sensorischer Überreizung.
Wir konfrontieren diesen „Widerstand“ nicht. Wir validieren die Notwendigkeit – und suchen dann gemeinsam nach Wegen, die physiologischen Bedürfnisse zu erfüllen, ohne den Kontakt abbrechen zu müssen.
Die Praxis: Wie Neuro-Affirmativität die Behandlung verändert
Der größte Gewinn dieser Haltung liegt in der Präzision bei häufigen klinischen Bildern:
Wenn Depression eigentlich „Autistisches Burnout“ ist
Viele als „therapieresistent“ geltende Depressionen entpuppen sich bei neuro-affirmativer Betrachtung als chronischer Erschöpfungszustand durch Neurodivergenz.
Das Kernthema: Die Depression ist hier oft nicht nur eine klassische Stimmungsstörung, sondern häufig die Rechnung für jahrelanges Masking. Die Energie, die für das ständige „Normal-Spielen“ nötig war, fehlt jetzt für das Leben. Der therapeutische Ansatz:
- Radikale Akzeptanz: Statt zu aktivieren („Gehen Sie raus, machen Sie Sport“ – was das System überfordern würde), arbeiten wir an der Akzeptanz der Erschöpfung. Nichts tun zu müssen, ist hier Heilung.
- Identität finden: Wer bin ich, wenn ich niemandem gefallen muss? Wir nutzen das Experiment, um eine Identität jenseits der Anpassung zu entdecken.
Trauma und die täglichen Nadelstiche
Neurodivergente Menschen leiden oft unter einer chronischen Mikrotraumatisierung. Sie sind täglich dem Trauma der sozialen Ablehnung („Sei nicht so sensibel!“) und sensorischen Grenzüberschreitungen (Lärm, Licht, Gerüche) ausgesetzt.
Der therapeutische Ansatz:
- Das Setting ist die Intervention: Ein sensorisch sicherer Raum (gedämpftes Licht, keine erzwungene Sitzordnung, Fidget-Toys) wirkt bereits heilend und regulierend.
- Körpergewahrsein: Wenn ein Klient unruhig wird, prüfen wir: Ist es psychische Angst oder sensorische Überlastung durch einen Reiz im Raum? Diese Unterscheidung gibt die Kontrolle zurück.
Panikattacke oder Meltdown?
Panik ist der Alarm des Nervensystems. Aber ist der Auslöser psychisch oder physisch? Bei vielen Klienten sind Panikattacken eigentlich Meltdowns oder Shutdowns. Die Ursache ist häufig weniger ein katastrophisierender Gedanke, sondern vielmehr eine kumulierte Reizüberflutung. Das System bricht schlicht zusammen.
Der therapeutische Ansatz:
- Sensorisches Frühwarnsystem: Wir trainieren das Gewahrsein im Hier und Jetzt. „Was spüre ich im Nacken, kurz bevor mir alles zu viel wird?“
- Vokabular der Selbsthilfe: Wenn ein Klient sagt: „Ich habe keinen Rückfall in die Panik, ich habe gerade einen Shutdown, weil das Licht zu hell war“, beendet das die Schamspirale. Es macht handlungsfähig.
Fazit: Menschsein jenseits der Norm
Die neuro-affirmative Haltung ist für mich keine modische Neuerung, sondern eine wissenschaftliche Bestätigung einer tiefen humanistischen Wahrheit: Das Menschsein ist vielfältig, und jedes System organisiert sich im besten Wissen und Gewissen.
Meine Arbeit verbindet heute zwei Welten:
- Die Wärme und Präsenz der Gestalttherapie: Echte Begegnung im Hier und Jetzt.
- Das Wissen der Neurodiversität: Biologisches Verständnis für Reizverarbeitung, Masking und Burnout.
Wir reparieren niemanden. Wir sehen, was ist, und schaffen einen Raum, in dem das neurodivergente Selbst nicht nur überleben, sondern aufblühen kann.



