Einleitung
Kontakt in der Gestalttherapie: Was bedeutet „Kontakt“?
In der Gestalttherapie bezeichnet Kontakt den Prozess des Austauschs zwischen einem Menschen und seiner Umwelt, sei es mit anderen Menschen, Tieren, der Natur oder auch dem Kontakt mit sich selbst (den eigenen Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen). Dieser Kontaktprozess läuft ständig ab, meist ohne dass wir ihn bewusst wahrnehmen. Durch Kontakt erfüllen wir unsere Bedürfnisse: Wir nehmen auf, was wir zum Leben brauchen, und wehren ab, was uns nicht guttut. So gesehen ist Kontakt die Schnittstelle, an der wir uns mit der Welt verbinden, um psychisch wie körperlich gesund zu bleiben.
Martin Buber prägte den Satz: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ – unsere Identität entwickelt sich also im Gegenüber, in der Begegnung mit dem Anderen. Ganz in diesem Sinne versteht die Gestalttherapie Kontakt als zentrales Beziehungsgeschehen: Indem ich wirklich in Beziehung trete, sei es mit einem mitfühlenden Gegenüber oder mit meinen eigenen lange verdrängten Gefühlen, erfahre ich etwas über mich selbst. Im Hier und Jetzt einer echten Begegnung kann Wachstum und Heilung stattfinden. Gestalttherapeutische Psychotherapie legt daher großen Wert darauf, die Bewusstheit für den aktuellen Kontakt zu erhöhen: Was spüre ich in diesem Moment? Was nehme ich in mir wahr, was im Anderen? Dieser bewusste Kontakt zu sich und zur Umwelt ist der Schlüssel, um festgefahrene Muster zu erkennen und neue Erfahrungen zu ermöglichen.
Die Kontaktgrenze: Zwischen mir und dir, innen und außen
Kontakt findet an der Grenze statt. Die Kontaktgrenze ist der Ort, an dem Ich und Du, Organismus und Umwelt aufeinandertreffen. Diese Grenze trennt nicht nur, sie verbindet auch. Man kann sie sich als einen vibrierenden Zwischenraum vorstellen: Dort, wo mich eine Hand berührt, wo mich ein Wort erreicht, wo sich Blicke treffen, wo ich die kalte Luft in meine Nase strömen spüre oder in einen saftigen Apfel beiße, überall da verläuft die Kontaktgrenze. Es ist der Punkt, an dem Wahrnehmung und Wirkung in beide Richtungen fließen: Ich wirke auf die Welt ein und lasse die Welt auf mich wirken.
Gestalttherapie arbeitet am Bewusstsein dieser Kontaktgrenze. Für einen lebendigen Austausch mit anderen Menschen und auch für einen guten Kontakt mit sich selbst, ist das Gewahrsein der eigenen Grenzen von großer Bedeutung. An der Grenze spüre ich, was ich will und brauche, und wo du beginnst. Je klarer ich wahrnehme, was ich an dieser Grenze annehmen möchte und was ich zurückweisen muss, umso besser kann ich für mich sorgen.
Interessanterweise bewegt sich die Kontaktgrenze nicht nur zwischen zwei Menschen oder zwischen Mensch und Umwelt – sie bewegt sich auch innerhalb des Menschen. Gestalttherapie spricht hier von interpersoneller und intrapsychischer Kontaktgrenze. Die interpersonelle Grenze ist die offensichtliche: sie liegt im Zwischenraum des „Ich-Du“. Die intrapsychische Kontaktgrenze hingegen beschreibt den Kontakt innerhalb des Selbst, zum Beispiel wenn ich mit meinen eigenen Gefühlen, Erinnerungen oder Impulsen in Berührung komme. Auch hier findet Kontakt statt – etwa der Dialog zwischen Verstand und Gefühl oder zwischen verschiedenen inneren Stimmen. In beiden Fällen, ob interpersonell oder intrapsychisch, ist Kontakt das aktive Geschehen an der Grenze, das uns orientiert: Was gehört zu mir, was kommt von außen? Wofür öffne ich mich, wovor schütze ich mich?
Kontakt als Ort von Wachstum und Integration
Warum betont die Gestalttherapie den Kontakt so sehr? Weil genau an dieser Kontaktgrenze Wachstum geschieht. Alles Neue, das wir lernen oder integrieren, muss zunächst an uns herantreten, es begegnet uns an der Grenze. Dort prüfen wir (bewusst oder unbewusst), ob und wie dieses Neue zu uns passt. Man kann sich das bildlich als Essensmetapher vorstellen: Unser Organismus „verdaut“ nicht nur Nahrung, sondern auch Erfahrungen. Assimilation nennt die Gestalttherapie den Vorgang, bei dem wir Eindrücke aus der Umwelt aufnehmen, zerkleinern, anpassen und schließlich so integrieren, dass sie ein Teil von uns werden und uns nähren. Damit diese seelische Verdauung gelingt, braucht es einen lebendigen Kontaktprozess. Wir müssen das Neue an der Grenze zerlegen, hinterfragen, ausprobieren, modifizieren bevor wir es schlucken, damit es uns bekommt.
Ein einfaches Beispiel: Ein Kind lernt einen neuen Wert oder eine Regel kennen (etwa „Man sagt immer die Wahrheit“). Im gesunden Kontakt mit seinen Bezugspersonen kann das Kind ausprobieren, wie sich Ehrlichkeit anfühlt, aber auch erleben, wann vielleicht Taktgefühl wichtiger ist. Durch diese Erfahrungen wird der Wert „Ehrlichkeit“ nicht einfach ungefiltert übernommen, sondern in einer für das Kind verdaulichen Weise integriert – er wird zu einem eigenen Wert, der zum Wachstum und zur Orientierung des Kindes beiträgt. Der Kontakt mit der Umwelt (Eltern, Lehrer, Freunde) liefert also das „Material“ für Entwicklung, aber an der Kontaktgrenze entscheidet sich, was davon übernommen oder abgewehrt wird. Gelingender Kontakt führt zu Integration neuer Erfahrungen und damit zu persönlichem Wachstum.
Fehlender oder gestörter Kontakt hingegen bremst diesen Prozess. In der Gestalttherapie spricht man von offenen Gestalten oder unvollständigen Erfahrungen, die immer wieder anklopfen, weil sie noch nicht integriert wurden. Das können zum Beispiel unerledigte Gefühle aus der Vergangenheit sein, die im aktuellen Leben als Symptome oder Beziehungsschwierigkeiten auftauchen. Diese unabgeschlossenen Gestalten warten bildlich gesprochen an der Kontaktgrenze darauf, gesehen und bearbeitet zu werden, sodass sie endlich „verdaut“ und abgeschlossen werden können. Auch hier zeigt sich: Kontakt – insbesondere im geschützten Rahmen der Psychotherapie – ist der Ort, an dem Heilung und Wachstum stattfinden. In der echten Begegnung, im bewussten Erleben dessen, was jetzt an der Grenze auftaucht, können alte Erfahrungen integriert und neue Handlungsspielräume gewonnen werden.
Kontaktfunktionen: kreative Formen der Kontaktgestaltung
Wenn vom Kontakt die Rede ist, darf ein weiteres gestalttherapeutisches Konzept nicht fehlen: die Kontaktfunktionen. Damit sind verschiedene Weisen gemeint, wie wir an der Kontaktgrenze mit Erlebnissen umgehen. In der klassischen Gestalttherapie wurden diese Phänomene lange als Kontaktunterbrechungen oder Kontaktstörungen bezeichnet – also als Muster, die den echten Kontakt behindern. Moderne Gestalttherapeut:innen betonen jedoch, dass diese Verhaltensweisen zwei Seiten haben: Einerseits können sie den lebendigen Austausch tatsächlich stören, andererseits hatten sie ursprünglich einen sinnvollen Zweck und sind Teil unserer kreativen Anpassungsfähigkeit. Daher spricht man heute lieber von Kontaktfunktionen oder auch von kreativen Kontaktgestaltungen.
Die wichtigsten fünf Kontaktfunktionen sind Introjektion, Projektion, Retroflektion, Deflektion und Konfluenz. Im Folgenden schauen wir uns an, was sich hinter diesen Begriffen verbirgt und wie sie sowohl hemmend als auch schöpferisch wirken können:
- Introjektion: Bei der Introjektion übernehmen wir Einflüsse von außen ungeprüft in unser inneres System – so, als würden wir etwas herunterschlucken, ohne darauf zu beißen. Positive Seite: Introjektion ermöglicht es, sehr schnell große Mengen an Informationen oder Regeln aufzunehmen, was gerade in der Kindheit überlebenswichtig ist. Wir lernen z.B. sprachlich und kulturell vor allem durch Introjektion, indem wir zuerst vieles einfach so hinnehmen, wie es uns beigebracht wird. Problematisch wird Introjektion, wenn wir dauerhaft fremde Werte, Meinungen oder Erwartungen übernehmen, ohne sie an unserer „individuellen Wahrheit“ zu prüfen. Dann fühlen wir uns innerlich fremdbestimmt oder „vollgestopft“ mit Dingen, die uns eigentlich nicht guttun. In der Psychotherapie zeigt sich Introjektion zum Beispiel, wenn Klient:innen oft Sätze sagen wie „Man muss doch…“ oder „So muss es sein“, ohne zu merken, dass dies eigentlich übernommene Glaubenssätze sind. Die kreative Herausforderung besteht darin, Introjekte zu kauen und zu verdauen, das heißt, sie bewusst zu überprüfen: Welche dieser übernommenen Überzeugungen nähren mich wirklich, welche sollte ich symbolisch wieder „ausspucken“?
- Projektion: Projektion bedeutet, dass wir Eigenschaften, Gefühle oder Gedanken, die zu uns gehören, irrtümlich im Außen wahrnehmen. Wir projizieren also innere Anteile auf andere Personen oder die Umgebung. Im günstigen Fall kann dies helfen, uns selbst besser kennenzulernen: Wir erkennen in anderen etwas, das auch in uns schlummert. Außerdem ist Projektion eng verwandt mit Einfühlungsvermögen – um dich zu verstehen, projiziere ich mich gewissermaßen in deine Lage. Die Kehrseite: Projektion kann den direkten Kontakt erheblich trüben, weil wir dem Gegenüber Dinge unterstellen, die mehr mit uns selbst zu tun haben. Ein klassisches Beispiel ist jemand, der zutiefst verärgert ist, aber sagt: „Warum bist du nur so wütend auf mich?“ Hier wird die eigene Wut auf den anderen übertragen. Solche Projektionen können zu Missverständnissen und Konflikten führen, weil der echte Mensch hinter der Projektionsfläche nicht gesehen wird. Als kreative Kontaktfunktion erlaubt uns Projektion jedoch auch, gefahrvolle Gefühle zunächst auf Abstand zu halten und schrittweise anzunähern. In der Therapie kann eine projizierte Emotion behutsam wieder zurückgenommen werden: Könnte es sein, dass das, was ich im Anderen bekämpfe oder bewundere, ein Teil von mir ist? Diese Erkenntnis öffnet die Tür für echten Kontakt, sowohl mit dem Gegenüber als auch mit mir selbst.
- Retroflektion: Dieses etwas sperrige Wort lässt sich mit „Zurückbeugung“ übersetzen. Gemeint ist, dass wir Impulse, die sich eigentlich nach außen richten, gegen uns selbst kehren. Wir tun gewissermaßen uns selbst das an, was wir eigentlich mit einer Person oder Situation in der Umwelt tun wollten. Die positive Absicht dahinter ist oft Selbstkontrolle oder Selbstschutz. Retroflektion hilft uns zum Beispiel, aggressive Impulse zu zügeln, damit wir niemanden verletzen, eine im sozialen Miteinander durchaus nützliche Fähigkeit. Aus einer kreativen Kontaktfunktion kann Retroflektion jedoch zu einer schmerzhaften Sackgasse werden, wenn wir unsere Bedürfnisse chronisch gegen uns selbst richten. Unterdrückte Wut kann sich dann als Selbsthass oder psychosomatische Beschwerden manifestieren. Ein einfaches Beispiel: Jemand ist enttäuscht und wütend auf eine Freundin, bringt dies aber nicht zum Ausdruck. Stattdessen beißt er nachts die Zähne zusammen oder richtet die Wut gegen sich selbst („Ich bin so dumm, dass mich das überhaupt stört!“). Die Energie, die eigentlich in den Kontakt fließen sollte, bleibt „hängen“ und richtet Schaden im Innern an. In der Psychotherapie wird Retroflektion oft körperlich spürbar, etwa in Form von Anspannungen, unterdrückten Tränen oder festgehaltenem Atem. Die therapeutische Arbeit besteht dann darin, diese zurückgehaltene Energie wieder ins Fließen zu bringen. Retroflektion kreativ zu lösen heißt, behutsam auszuprobieren, wie es wäre, den Impuls doch nach außen zu richten – z.B. in einem geschützten Rahmen den Ärger laut auszusprechen oder einer Bewegung Ausdruck zu verleihen, anstatt sie zu blockieren.
- Deflektion: Deflektion beschreibt die Tendenz, unmittelbaren Kontakt auszuweichen oder abzuschwächen. Stellen Sie sich vor, jemand spricht in einer sehr emotionalen Situation plötzlich über Belangloses oder macht Witze, das ist Deflektion. Wir lenken ab, weichen aus, werden vage oder „flutschen weg“, um nicht zu nah an etwas Schmerzhaftes oder Angsteinflößendes heranzukommen. Diese Kontaktfunktion hat einen klaren Selbstschutz-Aspekt: Sie schafft Distanz und verhindert, dass wir überwältigt werden. So kann Deflektion beispielsweise helfen, in einer akuten Krisensituation handlungsfähig zu bleiben, indem man nicht alles an sich heranlässt. Wenn Deflektion jedoch zum Dauerzustand wird, leidet die Beziehungsfähigkeit. Kontakte bleiben oberflächlich; echte Intimität und authentischer Austausch werden vermieden. Oft äußert sich das in scheinbar „leichten“ Gesprächen, die nie ins Tiefere gehen, oder darin, dass jemand viel redet, aber nichts Persönliches preisgibt. In der Therapie fallen deflektierende Muster z.B. auf, wenn Klient:innen Blickkontakt vermeiden, ständig vom Thema abschweifen oder über Gefühle nur abstrakt sprechen. Eine kreative Wendung der Deflektion besteht darin, das Wie des Ablenkens zum Thema zu machen: Wir beobachten gemeinsam, dass derjenige gerade einen Scherz macht, obwohl ihm die Tränen kommen und genau darin liegt der Zugang zur tieferen Emotion. So kann Deflektion als Türöffner dienen: Indem wir das Ausweichen bemerken, gelangen wir behutsam doch noch an das, was ursprünglich gemieden wurde.
- Konfluenz: Konfluenz bedeutet Verschmelzung. Hierbei verschwimmt die Kontaktgrenze – das Ich und das Du fließen ineinander. In einem Zustand von Konfluenz gibt es kaum Differenzierung zwischen eigenen und fremden Bedürfnissen. Die positive Seite: Konfluenz ist die Basis für Mitgefühl, Zugehörigkeit und Hingabe. Wir erleben Konfluenz zum Beispiel, wenn wir uns in einem vertrauten Kreis so verbunden fühlen, dass wir uns als Teil eines Wir wahrnehmen. Auch Momente inniger Liebe oder spiritueller Verbundenheit sind oft konfluente Erfahrungen – man fühlt sich eins mit dem Anderen oder mit der ganzen Welt. Kurzzeitig kann das sehr heilsam sein und ein tiefes Gefühl von Geborgenheit vermitteln. Doch für ein dauerhaft gesundes Miteinander braucht es auch die eigene Kontur. Problematisch ist Konfluenz daher, wenn sie zur Gewohnheit wird und ein Mensch sich gar nicht mehr als eigenständiges Wesen spürt. Wer in ungesunder Konfluenz lebt, vermeidet jeden Konflikt, passt sich ständig an und stellt Harmonie über alles – bis zur Selbstaufgabe. Eigene Meinungen oder Bedürfnisse werden dann gar nicht mehr wahrgenommen, weil man vollkommen im Gleichklang mit der Umgebung sein möchte. In der Therapie zeigt sich Konfluenz etwa, wenn Klient:innen Schwierigkeiten haben zu sagen, was sie wollen („Mir egal, was wir machen, Hauptsache, du bist zufrieden.“). Die Aufgabe besteht hier darin, behutsam wieder eine Grenze spürbar zu machen: Wo hörst du auf, wo fängt der Andere an? Konfluenz kreativ zu nutzen, heißt in der Gestalttherapie, sich der gemeinsamen Erfahrung bewusst zu werden und sie gleichzeitig zu reflektieren. Zum Beispiel kann Therapeut:in und Klient:in auffallen, dass beide gerade sehr im Gleichklang nicken und dies zum Anlass nehmen, die eigenen Impulse wieder getrennt zu erkunden. So wird Konfluenz vom unbewussten Verschmelzen zur bewussten Verbundenheit mit Bewahrung des Ich.
Therapeutischer Umgang mit den Kontaktfunktionen
In der psychotherapeutischen Praxis achtet die Gestalttherapeutin oder der Gestalttherapeut genau auf diese Kontaktphänomene. Der erste Schritt besteht meist darin, die Bewusstheit für das aktuelle Geschehen an der Kontaktgrenze zu erhöhen. Was passiert hier und jetzt zwischen Therapeut:in und Klient:in? Vielleicht bemerkt die Therapeutin, dass der Klient beim Sprechen über ein schwieriges Thema ständig lächelt (ein Hinweis auf Deflektion), oder dass er immer wieder davon spricht, was „man“ tun sollte statt was er selbst fühlt (mögliche Introjektion/Konfluenz). Solche Beobachtungen werden behutsam in den Prozess eingebracht, ohne zu bewerten. Entscheidend ist, dass Klient:innen selbst wahrnehmen, wie sie Kontakt gestalten. Denn oft laufen diese Kontaktfunktionen sehr automatisch und unbewusst ab, wir haben sie ja meist früh im Leben gelernt.
Ein zentraler Aspekt im gestalttherapeutischen Umgang ist die Würdigung der Schutzfunktion, die hinter jedem Kontaktmuster steckt. Bevor Veränderung möglich ist, muss anerkannt werden: Diese Art, in Kontakt zu gehen (oder ihn abzubrechen), hatte einmal einen guten Grund. Sie hat vielleicht vor seelischem Schmerz bewahrt oder dabei geholfen, in einer herausfordernden Umgebung zu bestehen. Diese Würdigung nimmt den Druck von Klient:innen, sich „falsch“ oder „defizitär“ zu fühlen, nur weil sie z.B. konfliktscheu (konfluent) oder vorschnell zustimmend (introjektiv) reagieren. Im geschützten Rahmen der Psychotherapie darf das alte Muster zunächst sein, genau so wie es ist. Durch diese akzeptierende Haltung entsteht oft erst die Sicherheit, etwas Neues auszuprobieren.
Die Gestalttherapie arbeitet erlebnisorientiert, das heißt, neue Erfahrungen werden im Hier-und-Jetzt der therapeutischen Beziehung ermöglicht. Die Therapeutin bietet Unterstützung (Support), um am Kontaktexperiment zu partizipieren: Statt wie gewohnt auszuweichen oder sich anzupassen, darf der Mensch in kleinen Schritten mit anderen Kontaktmöglichkeiten experimentieren. Das kann sehr konkret aussehen. Ein Praxisbeispiel: Ein Klient, der gewohnt ist, unangenehme Gefühle wegzulächeln (Deflektion), wird eingeladen, einen Moment innezuhalten, wenn ihm nach Lächeln zumute ist. Die Therapeutin könnte sagen: „Bemerkst du, wie du jetzt lächelst, während du von etwas Schmerzlichem sprichst? Könnte es sein, dass da auch Traurigkeit ist?“ Vielleicht spürt der Klient dann tatsächlich einen Kloß im Hals statt eines Lächelns. In diesem Augenblick wird der unterbrochene Kontakt wieder hergestellt, er kommt in Kontakt mit seiner Trauer, und teilt diese Erfahrung im nächsten Schritt vielleicht auch mit der Therapeutin. Eine neue, unmittelbarere Begegnung entsteht, in der echtes Mitgefühl und Entlastung möglich werden.
Noch ein Beispiel: Eine Klientin neigt aus Konfluenz und Introjektion heraus dazu, immer „Ja“ zu sagen, sie kann kaum Grenzen setzen, weil sie die Bedürfnisse der anderen förmlich in sich aufsaugt und die eigenen gar nicht spürt. In der Therapie wird sie zunächst darin unterstützt wahrzunehmen, wann und wie sie automatisch zustimmt, obwohl ihr etwas eigentlich nicht recht ist. Vielleicht berichtet sie, dass sie sich letzte Woche von einer Freundin zu einer Gefälligkeit überreden ließ, obwohl sie erschöpft war. Die Therapeutin könnte vorschlagen, diese Situation in der Stunde nachzuspielen: Sie schlüpft in die Rolle der drängenden Freundin und gibt der Klientin die Gelegenheit, diesmal etwas Neues auszuprobieren – etwa freundlich „Nein, das schaffe ich heute nicht“ zu sagen. Für die Klientin mag das zunächst ungewohnt und angstauslösend sein, denn es widerspricht ihrem jahrelang verinnerlichten Kontaktmuster. Doch im sicheren Raum der Therapie kann sie erleben, dass die Welt nicht untergeht, wenn sie eine Grenze setzt. Sie spürt vielleicht sogar Erleichterung und einen Anflug von Selbstwert, indem sie die eigene Grenze wahrnimmt und mitteilt. Dieses Experiment an der Kontaktgrenze, ein klares Nein auszusprechen und stehenzubleiben, während die Therapeutin (in Rolle der Freundin) darauf reagiert – ist eine korrigierende emotionale Erfahrung. Nach und nach integriert die Klientin diese Fähigkeit in ihr reales Leben: Sie bemerkt früher, wann etwas nicht passt, und traut sich eher, authentisch darauf zu reagieren.
Solche praxisnahen Schritte zeigen, wie Gestalttherapie mit Kontaktfunktionen umgeht: Nicht durch theoretisches Analysieren allein, sondern durch erlebtes Lernen am Kontakt. Therapeut:in und Klient:in begegnen sich dabei auf Augenhöhe. Der therapeutische Raum wird zu einem sicheren „Übungsfeld“, in dem alle alten Muster auftauchen dürfen und in dem behutsam neue Formen des Kontakts erprobt werden können. Die Therapeutin bleibt im Prozess als echtes Gegenüber präsent: Sie reagiert ehrlich und empathisch, gibt Rückmeldung, wie das Verhalten des Klienten bei ihr ankommt, und unterstützt dabei, das Erlebte zu reflektieren. So entsteht ein Dialog, der Buber’sches Ich-Du erlebbar macht, eine Begegnung, in der Wachstum geschieht.
Am Ende geht es darum, die Kontaktfähigkeit eines Menschen zu erweitern. Je freier jemand wählen kann, wie nah oder distanziert, wie offen oder geschützt er in einer gegebenen Situation in Kontakt geht, desto lebendiger und authentischer kann er sein Leben gestalten. In der Psychotherapie wird an der Kontaktgrenze Schritt für Schritt deutlich: Hier bin ich, da bist du – und im Dazwischen können wir uns treffen. Aus dieser echten Begegnung heraus wird Entwicklung möglich. Kontakt an der Grenze bedeutet nämlich nicht, sich aufzugeben, sondern sich im Gegenüber selbst zu finden. Genau dort, wo Ich und Du sich berühren, entfaltet sich das volle Potenzial von Wachstum, Heilung und menschlicher Verbundenheit.
Quellen
- Perls, F., Hefferline, R., & Goodman, P. (1951). Gestalt Therapy: Excitement and Growth in the Human Personality. [Deutsche Ausgabe: Gestalttherapie, 1979]. (Grundlagenwerk der Gestalttherapie, Einführung des Kontakt-Konzepts)
- Buber, M. (1923). Ich und Du. (Philosophische Grundlage des dialogischen Prinzips: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“)
- Yontef, G. (1993). Awareness, Dialogue and Process: Essays on Gestalt Therapy. (Moderne gestalttherapeutische Theorie, u.a. zur therapeutischen Beziehung und Kontakt)
- Mühlbauer, G. (o.J.). Gestalttherapie – Kontaktfunktionen. Online-Artikel. (Übersicht über Kontaktfunktionen und ihren Sinn als Anpassungsstrategien)
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