Das Paradoxon der Veränderung im Führungskräfte Coaching

Paradoxon der Veränderung - Arnold R. Beisser

Veränderungen sind schwierig, mitunter sogar schmerzhaft. Sie kosten den Coachee Energie und nehmen Zeit in Anspruch. Alte Gewohnheiten, Glaubenssätze und Verhaltensmuster sind mächtig und ein zentrales Thema im Führungskräfte Coaching. Die Gestalttherapie verfolgt mit großem Erfolg einen eigenen Ansatz – das Paradoxon der Veränderung. Die Kernaussage lautet nach Arnold R. Beisser (1925-1991), einem US-amerikanischen Gestalttherapeuten und Professor für Psychiatrie an der University of California, Los Angeles: „Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht, wenn er versucht, etwas zu werden, was er nicht ist.“

Das Paradoxe des Wandels verstehen

Jeder kennt das Problem, an Vorsätzen – selbst vermeintlich kleinen – zu scheitern. Die Struktur des menschlichen Gehirns wirkt Veränderungen entgegen. Gewohnheiten fordern dem menschlichen Stoffwechsel den geringsten Energieeinsatz ab. Der Begründer der Gestalttherapie Fritz Perls (1893-1970), ein deutsch-US-amerikanischer Psychiater und Psychotherapeut, beschreibt es so:

„Wir sind alle mit der Idee der Veränderung beschäftigt, und die meisten gehen da heran, indem sie Programme machen. Sie wollen sich ändern. ›Ich sollte so sein‹ und so weiter und so weiter. Was aber tatsächlich geschieht, ist, dass die Idee einer vorsätzlichen Änderung niemals, nie und nimmer, funktioniert. Sobald man sagt: ›Ich möchte mich ändern‹ – ein Programm aufstellt – wird eine Gegenkraft in einem erzeugt, die von der Veränderung abhält. Änderungen finden von selbst statt. Wenn man tiefer in sich hineingeht, in das, was man ist, wenn man annimmt, was da vorhanden ist, dann ereignet sich der Wandel von selbst. Das ist das Paradoxe des Wandels.“

Sinnvolle und geordnete Veränderung initiieren

Verfolgt ein Coach einen gestalttherapeutischen Ansatz, ist sein primäres Ziel, die Voraussetzungen für sinnvolle und geordnete Veränderung zu schaffen. Sein Selbstverständnis als Coach ist strikt das eines Prozessberaters. Für eine Führungskraft bedeutet das Paradoxon der Veränderung, dass die erste Herausforderung darin besteht, in der Gegenwart anzukommen und diese in Worte zu fassen. Dadurch, dass sich der Manager mit dem Coach austauscht, nimmt er die Realität – sich selbst und seine Umwelt – bewusst wahr. Das Ankommen im Jetzt und die Identifikation mit den eigenen Emotionen bildet die Basis für die von ihm gewünschte Veränderung sowie den weiteren Coachingprozess.

Arbeitet der Coachee mit einem Coach zusammen, der einen therapeutischen Hintergrund hat, fällt es ihm leichter, sich zu öffnen. Er hat die Gewissheit, dass er sich mit seinen Problemen nicht minderwertig fühlen muss. Es geht um ihn als Mensch und nicht um fachlichen Expertenrat. Der Coach nimmt mit – ganz selbstverständlich – eine emphatische und fördernde Haltung ein. Er scheut sich nicht, blinde Flecken genau in Augenschein zu nehmen, Konflikte auszuhalten und den Coachee mit seinen Verhaltens- und Wahrnehmungseinschränkungen zu konfrontieren. Ziel ist es, die Autonomie und emotionale Eigenständigkeit der Führungskraft zu unterstützen. Der Manager verändert sich dadurch, dass er lernt, sich selbst anzunehmen. Wer mit sich selbst im Reinen ist, strahlt Authentizität und das perfekte Maß an Selbstbewusstsein aus.

Von der Lösungsorientierung zur Entwicklungsorientierung

Hat ein Manager festen Boden unter den Füßen und nimmt er seine aktuelle Situation ganzheitlich wahr, kann er frei über seine Ziele entscheiden. Der Coachee kann seine lösungsorientierte Ausrichtung verlassen und dadurch die Ursachen seiner Probleme formulieren. Der Coach arbeitet mit dem Manager nur an Prozessen, die er selbst kurz-, mittel- und langfristig verändern kann. Die Führungskraft bekommt die Freiheit, die eigenen Potenziale zur Weiterentwicklung zu aktivieren und flexibel auf Umweltdynamiken zu reagieren. Der Weg führt von der Lösungsorientierung zur Entwicklungsorientierung.

Viele Führungskräfte auf Spitzenebene fühlen sich durch die Vielfalt an Rollenanforderungen und die Komplexität ihrer aktuellen Anforderungssituation überfordert. Das gestalttherapeutisch orientierte Coaching bietet ein vertrauensvolles Setting, um Gewohnheiten und automatisierte Abläufe in Frage zu stellen. Nimmt sich ein Coachee die Zeit, sich selbst innerhalb der Komplexität wahrzunehmen, ändert sich seine Perspektive. Die Überlegungen setzen bei ihm als Person an. Dabei beziehen sie sämtliche fachlichen und persönlichen Kompetenzen ein. Nicht das Ziel ist im Fokus, sondern der Prozess. Der Gestalttherapeut und Coach fungiert als Begleiter und Sparring-Partner. Er unterstützt die Führungskraft bei der Hinterfragung und Neuformulierung der eigenen Erfolgskriterien.

Kreativität, Intuition und Kognition kombinieren

Kann der Cochee persönliche Gestaltungsspielräume wahrnehmen, eröffnen sich neue Handlungsoptionen. Er befreit sich – soweit es die Organisationsgrenzen zulassen – von dem Zwang, Erwartungshaltungen Dritter zu erfüllen. Die eigenen Arbeitsergebnisse rücken in den Fokus und Ausreden nach dem Motto „Ja, aber…“ verlieren an Bedeutung. Gemäß dem Paradoxon der Veränderung in der Realität und bei sich selbst anzukommen, verändert ganz von selbst die Selbstwahrnehmung und den Glauben an die eigene Selbstwirksamkeit. Der Cochee erlebt einen Motivationsschub und gewinnt an Ehrgeiz, gesetzte Ziele zu übertreffen.

Im Rahmen des gestalttherapeutisch orientierten Führungskräfte Coachings lernt der Manager, die Kreativität, Intuition und Kognition zu kombinieren. Die Kontrolle über das eigene Denken und Handeln zu erlangen, auf die eigene Intuition zu vertrauen und beides mit kognitivem Wissen zu verknüpfen, sind wichtige Fähigkeiten, um eigene Werte überzeugend zu vertreten – insbesondere in Konflikt- und Stresssituationen. Manager, die in sich ruhen, besitzen eine höhere Resilienz. Sie ist die Voraussetzung zu bewusster Reflexion. Ohne Resilienz droht die Gefahr, dass eine vorgegebene Dynamik einsetzt und alte Denk- und Verhaltensmuster aufbrechen. Dies betrifft sowohl die emotionale als auch die sachliche Ebene.

Akzeptanz durch innere Einstellung des Coaches

Beissers Paradoxon der Veränderung nimmt enormen Druck von den Schultern der Manager. Sätze wie „Um größeren Erfolg zu haben, muss ich so und so sein…“ können Führungskräfte aus ihrem Vokabular verbannen. Der Gestalttherapeut und Coach begreift das Paradoxon der Veränderung als eine wichtige Stütze seines Coachings. Seine innere Einstellung bewirkt die Akzeptanz und das veränderte Erleben der Realität im Coachee. Der Manager fühlt instinktiv, dass ihn der Coach nicht verändern möchte. Gefühle wie Ratlosigkeit, Erschöpfung, Überforderung und Mutlosigkeit sind normal. Sie nicht zu ignorieren, obwohl sie in höchstem Maße unangenehm sind, initiiert Veränderungsprozesse.

Beissers eigener Lebenshintergrund ist der Grund für seine tiefgreifenden Einsichten. Im Alter von 25 Jahren erkrankte der erfolgreiche Medizinstudent an Kinderlähmung. Fast vollständig paralysiert, konnte er über längere Zeiträume nur mithilfe einer eisernen Lunge atmen. Für den erfolgreichen Tennisspieler, der u. a. die nationalen Tennismeisterschaften gewonnen hatte, ein unvorstellbar schwerer Einschnitt in sein Leben. Er lernte, scheinbar Offensichtliches aus einer neuen Perspektive zu betrachten und durchlebte – unfreiwillig – tiefgreifende Veränderungen. Durch die Verbindung seiner eigenen Erfahrungen mit den Erfahrungen, die Perls aus der Anwendung der Gestaltungstherapie gewonnen hatte, konnte der Professor für Psychiatrie das Paradoxon der Veränderung so treffend formulieren.

Eigene Ziele spezifizieren und bewusst abgrenzen

Beisser schreibt in seiner Autobiografie: „Als ich aufhörte, zu kämpfen und an einer Änderung zu arbeiten, als ich Wege fand, zu akzeptieren, wie ich bereits geworden war, entdeckte ich, dass ich mich gerade dadurch veränderte. Anstatt mich behindert und unzulänglich zu fühlen, wie ich befürchtet hatte, fühlte ich mich wieder ganz. Ich erlebte ein Wohlbefinden und eine Fülle, die ich zuvor nicht gekannt hatte.“

Richtet eine Führungskraft den Blick von der Zukunft in die Gegenwart, verändert sich ihr Wunsch nach Veränderung. Sie kann das innere Drängen einordnen und eigene Ziele detailliert spezifizieren. Im Zentrum steht die Frage nach der Sinnhaftigkeit. Wichtig ist es, persönliche Ziele von denen anderer abzugrenzen. Der Gestalttherapeut und Coach deckt Neues, bisher Unbekanntes, auf und setzt die entscheidenden Impulse, ohne aktiv zu steuern. Er bietet das geeignete Setting, das es dem Coachee erlaubt, sich zu öffnen und seine Themen auszubreiten. Im Coachingprozess tauchen viele spannende Fragen auf, die sich Manager bisher noch nicht in der Form gestellt haben. Der innere Widerstand und die Befürchtungen des Managers, die ihn daran hindern, Neues zu starten, kommen ebenso zur Sprache wie Sehnsüchte.

Automatisierung neuer Denk- und Verhaltensmuster

Im Verlauf des Cochings wandeln sich die Gefühle des Coachee. Selbstvorwürfe und Selbstzweifel verschwinden. Das Verharren in einer Position des Haderns wird abgelöst durch bewusstes Denken und Handeln. Für Manager ist es wichtig, zu verstehen, dass Veränderungsprozesse eine hohe Komplexität besitzen und Zeit benötigen, bis sie sich auf der Handlungsebene manifestieren. Führungskräfte auf Spitzenebene neigen zu Ungeduld und dazu in wilden Aktionismus zu verfallen, wenn ihnen die Fortschritte als zu langsam erscheinen.

Der Gestalttherapeut und Coach macht dem Coachee die bereits vorhandenen Veränderungen auf emotionaler Ebene bewusst und ermutigt ihn dazu, Geduld zu haben. Es lohnt sich, Erwartungshaltungen aufrechtzuerhalten. Haben sich neue Denk- und Verhaltensmuster automatisiert, zeigt sich der Mehrwert in einer nachhaltigen Verbesserung der Managementkompetenzen sowie durch eine signifikante Persönlichkeitsentwicklung der Führungskraft.

Patrick Raulin | Gestalttherapeut (IGE) & Organisationsdesigner

Patrick Raulin | Gestalttherapeut (IGE) & Organisationsdesigner

Ich unterstütze Einzelpersonen und kleine Teams in Ihrem Veränderungsprozess, das sorgt für eine bessere Konfliktfähigkeit und mehr Resilienz. Unser Austausch ermöglicht es, in Zeiten hoher Dynamik und Komplexität innezuhalten und zu reflektieren. Statt eines Baukastens mit Methoden von der Stange biete ich individuelle Impulse und einen frischen Blick auf die derzeitige Situation.

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