- Blog Index
- Was bedeutet selektive Authentizität?
- Zwischen totaler Offenheit und maskenhafter Selbstverleugnung
- Wie selektive Authentizität in der Psychotherapie helfen kann
- Gesunder Kontakt im Alltag durch dosierte Echtheit
- Die Rolle von Selbstwahrnehmung, Abgrenzung und Beziehungsgestaltung
- Fazit: Echtheit mit Balance – ein Gewinn für uns selbst und andere
- Quellen
Was bedeutet selektive Authentizität?
Authentisch zu sein bedeutet, echt und wahrhaftig aufzutreten – man zeigt also sein echtes Selbst, anstatt eine künstliche Fassade vorzuschieben. Doch authentisch zu sein heißt nicht automatisch, jederzeit alles von sich preiszugeben. Hier kommt das Konzept der selektiven Authentizität ins Spiel. Dieser Begriff, geprägt von der Psychoanalytikerin und Gruppenpädagogin Ruth C. Cohn, beschreibt die Fähigkeit, authentisch, aber nicht ungefiltert zu kommunizieren. Cohn formulierte es treffend so: „Alles, was gesagt wird, soll echt sein; nicht alles, was echt ist, soll gesagt werden.“ Mit anderen Worten: Man wählt bewusst aus, was man von seinen echten Gedanken und Gefühlen zeigt, sodass das Gezeigte ehrlich ist – ohne jedoch ungefiltert jedes innere Empfinden nach außen zu tragen.
Selektive Authentizität bedeutet also Ehrlichkeit mit Augenmaß. Es geht darum, einerseits zu sich selbst zu stehen und echt zu wirken, andererseits aber situationsangemessen und rücksichtsvoll zu kommunizieren. Diese Ausgewogenheit erfordert Selbstbewusstsein und Reflexion: Man muss die eigenen Gefühle und Bedürfnisse wahrnehmen und dann entscheiden, was man davon mitteilen möchte und was man besser für sich behält. Wichtig ist: Bei selektiver Authentizität wird nichts Unwahres vorgespielt – man trägt keine Maske –, aber man behält sich das Recht vor, Privates privat zu lassen oder heikle Inhalte so zu dosieren, dass weder man selbst noch andere überfordert werden.
Dieses Konzept entstand ursprünglich im psychotherapeutischen Kontext. In der humanistischen Psychotherapie wurde erkannt, dass sowohl Therapeut:innen als auch Klient:innen von einer Balance aus Echtheit und Filter profitieren. So sollen z.B. Gestalttherapeut:innen zwar alles, was sie sagen, echt meinen, aber nicht unbedingt alles sagen, was sie denken. Die authentische Reaktion bleibt erhalten, doch sie wird bewusst geprüft und dosiert, bevor sie geäußert wird. Was dort als professionelle Richtlinie begann, lässt sich auch auf das alltägliche Miteinander übertragen: Selektive Authentizität kann jedem Menschen helfen, ehrlich und gleichzeitig taktvoll zu sein.
Zwischen totaler Offenheit und maskenhafter Selbstverleugnung
Selektive Authentizität lässt sich am besten verstehen, wenn man sie von zwei Extremen abgrenzt: totale Offenheit auf der einen Seite und maskenhafte Selbstverleugnung auf der anderen.
Totale Offenheit bedeutet, alles preiszugeben, was in einem vorgeht – radikale Ehrlichkeit ohne Rückhalt. Was nach unbändiger Authentizität klingt, kann in der Praxis jedoch problematisch sein. Niemand möchte durchgehend mit jeder Laune, Kritik oder jedem intimen Detail seiner Mitmenschen konfrontiert werden. Absolute Aufrichtigkeit ohne Filter kann Beziehungen belasten und sogar zerstören. Beispielsweise mag es ehrlich sein, einer Kollegin ungefragt all Ihre negativen Meinungen über ihre Persönlichkeit mitzuteilen, aber es ist vermutlich weder hilfreich noch respektvoll. Ebenso kann es in einer neuen Bekanntschaft unangebracht sein, sofort seine tiefsten Ängste und Traumata offenzulegen – das Gegenüber fühlt sich dadurch eventuell überfahren oder unwohl. Psychologisch betrachtet fehlt bei völliger Hemmungslosigkeit die Berücksichtigung von Grenzen und der seelischen Sicherheit aller Beteiligten. Ehrlichkeit verliert ihren Wert, wenn sie verletzend oder taktlos vorgebracht wird.
Maskenhafte Selbstverleugnung beschreibt das entgegengesetzte Extrem: Man zeigt überhaupt nichts Echtes von sich, trägt immer nur eine gesellschaftlich erwünschte Maske und verbirgt die eigenen Gedanken, Gefühle und Überzeugungen vollständig. Menschen, die sich selbst so verleugnen, versuchen ständig, den Erwartungen anderer zu entsprechen, und unterdrücken dabei ihre eigene Persönlichkeit. Dies mag kurzfristig Konflikte vermeiden, hat aber hohe innere Kosten. Sich dauerhaft zu verstellen, um niemanden vor den Kopf zu stoßen oder um geliebt zu werden, führt zu erheblichem psychischem Stress. Man fühlt sich möglicherweise unauthentisch, leer oder fremdbestimmt, weil man nie zeigen darf, wer man wirklich ist. Beziehungen bleiben in diesem Modus oberflächlich – das Gegenüber lernt ja nie den echten Menschen kennen, sondern nur die Maske. Langfristig kann maskenhafte Selbstverleugnung zu innerer Vereinsamung, Selbstwertproblemen und sogar Depressionen führen, da man das Gefühl hat, für das eigene wahre Selbst nicht akzeptiert zu werden.
Selektive Authentizität stellt den gesunden Mittelweg zwischen diesen Polen dar. Statt ins extreme Schwarz-Weiß von „ganz oder gar nicht“ zu verfallen, geht es um ein differenziertes Sowohl-als-auch:
- Echt sein, ohne sich komplett entblößen zu müssen: Man darf persönliche Gefühle ausdrücken und ehrlich sein, aber man muss nicht jedes Detail oder jede Meinung sofort offenlegen.
- Sich zeigen, ohne sich zu verlieren: Man darf unterschiedliche Facetten seiner Persönlichkeit je nach Kontext zeigen, ohne das Gefühl zu haben, unecht zu sein. Verschiedene soziale Rollen (z.B. beruflich vs. privat) bedeuten nicht automatisch „Verstellung“, sondern können ebenfalls authentisch gelebt werden – nur eben unterschiedlich betont.
- Offenheit mit Bedacht: Was man sagt, soll aufrichtig sein. Gleichzeitig fragt man sich: Ist es der richtige Zeitpunkt? Ist mein Gegenüber bereit dafür? Authentizität wird durch Takt und Timing ergänzt.
Diese Balance verhindert, dass Ehrlichkeit schroff oder verletzend wird, und ebenso, dass Rücksichtnahme in Selbstverleugnung umschlägt. Sie ermöglicht es, sich treu zu bleiben, und fördert trotzdem harmonische Beziehungen. Viele Psycholog:innen sind sich einig, dass absolute Offenheit oft genauso ungesund ist wie gar keine Offenheit – während selektive Authentizität die Vorteile beider Seiten vereint, ohne deren Nachteile zu übernehmen.
Wie selektive Authentizität in der Psychotherapie helfen kann
In der Psychotherapie spielt Authentizität eine zentrale Rolle – sowohl für die Therapeut:innen als auch für die Klient:innen. Das Konzept der selektiven Authentizität bietet hier wertvolle Orientierung.
Für Klient:innen kann selektive Authentizität bedeuten, im therapeutischen Prozess ehrlich über die eigenen Gefühle und Probleme zu sprechen, aber auch im eigenen Tempo zu entscheiden, was und wie viel man teilt. Eine gute Therapie bietet einen geschützten Rahmen, in dem man ausprobieren kann, authentisch zu sein – vielleicht zum ersten Mal, ohne Angst vor Zurückweisung. Dabei müssen Klient:innen nicht sofort alle Wunden und Geheimnisse auf den Tisch legen; sie dürfen Schritt für Schritt Vertrauen fassen. Zu Beginn wagen viele nur vorsichtige Offenheit, was völlig in Ordnung ist. Die Therapeutin wird das respektieren und eher behutsam ermutigen, nach und nach mehr von sich zu zeigen. Diese Dosierung von Selbstöffnung hilft, Überforderung zu vermeiden. Mit der Zeit erleben Klient:innen dann: “Ich kann mich zeigen, und es ist sicher. Ich werde verstanden und angenommen.“ Dieses Erleben fördert Selbstakzeptanz und das Gefühl, echt sein zu dürfen.
Zugleich lernen Klient:innen durch die Anleitung des Therapeuten, dass es in Ordnung ist, gewisse Dinge (vorerst) zurückzuhalten. Wenn beispielsweise starke Scham oder Unsicherheit da sind, kann man zuerst über weniger bedrohliche Themen sprechen. Die Fähigkeit, die eigene innere Wahrheit erst dann zu offenbaren, wenn man bereit dazu ist, stärkt das Gefühl von Kontrolle und Selbstschutz. In der Therapie kann man also üben: Wie viel möchte ich heute von meinem „wahren Ich“ zeigen? – und erlebt, dass man diese Grenze selbst bestimmen darf. Langfristig führt das zu mehr Selbstvertrauen im Umgang mit den eigenen Gefühlen.
Therapeut:innen wiederum wenden selektive Authentizität oft als berufliches Prinzip an. In der klientenzentrierten oder humanistischen Therapie sind Eigenschaften wie Echtheit (Kongruenz), Empathie und Wertschätzung wichtig. Doch Echtheit bedeutet hier nicht, dass der/die Therapeut:in ungefiltert alles mitteilt, was in ihm/ihr vorgeht. Im Gegenteil: Ein guter Therapeut ist zwar authentisch in seiner Haltung – d.h. aufrichtig interessiert, akzeptierend und echt berührt von dem, was der Klient erzählt –, aber er wird seine spontanen Reaktionen filtern. Gedanklich fragt sich ein Therapeut: „Hilft es meinem Gegenüber, wenn ich dies jetzt sage oder zeige?“ Nur wenn die Antwort ja lautet, wird er es äußern. Andernfalls behält er es für sich oder wartet auf einen geeigneteren Moment. Diese selektive Offenheit der Therapeut:innen schützt die Klient:innen vor Überforderung. Würde ein Therapeut z.B. schockiert oder wertend auf eine Erzählung reagieren und das unvermittelt zeigen, könnte dies den/die Klient:in beschämen oder verschließen. Stattdessen versuchen Therapeut:innen, ehrlich zu reagieren, aber immer im Dienste des/der Klient:in. Ihre Authentizität zeigt sich also darin, dass sie nichts vorspielen – sie meinen, was sie sagen –, jedoch sie sagen nur, was dem therapeutischen Prozess nützt.
Für Klient:innen kann dieses Modell sehr lehrreich sein. Sie erleben einen Menschen (den Therapeuten), der glaubwürdig und echt auftritt, aber trotzdem Grenzen wahrt. So kann die Therapie ihnen vorleben, wie Kommunikation funktionieren kann: ehrlich, respektvoll und bewusst gesteuert. Ein:e Patient:in, der/die z.B. aus dem eigenen Alltag nur Extreme kennt – entweder totale Konfrontation oder totale Gefühlsunterdrückung – kann durch die therapeutische Beziehung zum ersten Mal erfahren, wie es ist, sachlich und einfühlsam gleichzeitig zu kommunizieren. Dieses Erleben lässt sich nach und nach in das eigene Verhalten übertragen. Viele Klient:innen berichten, dass sie durch Psychotherapie gelernt haben, offener zu sprechen, aber auch sich besser abzugrenzen. Sie können nun beispielsweise in Konflikten ihre Bedürfnisse aussprechen, ohne in verletzende Vorwürfe zu verfallen – oder im Gegensatz, „Nein“ sagen, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen, weil sie wissen, dass selektiv authentisch sein nicht egoistisch, sondern gesund ist.
Zusammengefasst unterstützt selektive Authentizität in der Therapie also zweierlei: Sie hilft den Klient:innen, Vertrauen in die eigene Stimme zu entwickeln (ich darf echt sein), und zugleich die Fähigkeit, Dosierung und Timing ihrer Offenheit zu steuern (ich entscheide, wann und wie viel ich preisgebe). Diese Fähigkeiten sind fundamental, um auch außerhalb des Therapiezimmers psychisch gesund und selbstbestimmt zu leben.
Gesunder Kontakt im Alltag durch bewusst dosierte Echtheit
Nicht nur in der Therapie, auch im Alltag fördert selektive Authentizität gesunde und erfüllende Beziehungen. Wir alle bewegen uns täglich in unterschiedlichen sozialen Rollen – als Partner:in, Elternteil, Freund:in, Kolleg:in, Kund:in oder Chef:in. Je nach Kontext zeigen wir verschiedene Facetten unserer Persönlichkeit, und das ist völlig normal. Wichtig ist, dass wir in jeder Rolle authentisch bleiben können, ohne uns unangemessen zu verhalten. Selektive Authentizität liefert dafür einen praktischen Leitfaden.
Ein zentraler Punkt ist, dass Verbundenheit durch selektive Authentizität entsteht. Menschen fühlen sich einander nahe, wenn sie das Gefühl haben, ihr Gegenüber sei echt – aber gleichzeitig sicher im Umgang miteinander. Das heißt, wir vertrauen eher jemandem, der ehrlich und berechenbar wirkt, als jemandem, der offensichtlich etwas vorspielt. Doch ebenso vertrauen wir einer Person nicht, die unkontrolliert alles herausplatzt, was ihr durch den Kopf geht. Verlässlichkeit entsteht, wenn jemand seine echte Meinung sagt, aber auch Rücksicht auf die Situation und mein Befinden nimmt.
Denken wir an ein paar Beispiele aus dem Alltag:
- Sie treffen zum ersten Mal die Eltern Ihres Partners/Ihrer Partnerin. Natürlich möchten Sie authentisch auftreten – also sich nicht komplett verstellen und z.B. Interesse heucheln, wo keines ist. Gleichzeitig wählen Sie vermutlich bewusst aus, was Sie erzählen. Anekdoten über wilde Partynächte oder sehr persönliche Probleme lassen Sie beim ersten Kennenlernen vielleicht weg. Stattdessen zeigen Sie die echten Seiten von sich, die in diesem Kontext passend sind: Ihre aufrichtige Zuneigung zum Sohn/der Tochter der Eltern, Ihre echten Interessen oder beruflichen Ziele – Dinge, die ein ehrliches Bild von Ihnen vermitteln, aber nicht unnötig polarisieren. Sie sind also selektiv authentisch: wahrhaftig, aber mit Feingefühl dafür, was im Moment angebracht ist.
- Im Berufsleben gilt Ähnliches. Angenommen, Ihr Chef hält eine Präsentation, die Sie langweilig finden. Totale Offenheit wäre, ihm das unverblümt ins Gesicht zu sagen – ehrlich, ja, aber unklug und verletzend. Maskenhafte Anpassung wäre, ihn überschwänglich zu loben, obwohl Sie innerlich ganz anders denken – unehrlich und auf Dauer frustrierend. Selektive Authentizität könnte bedeuten, Sie äußern konstruktiv Ihre Sicht, wenn es angemessen ist („Die Präsentation war informativ, vielleicht könnten wir beim nächsten Mal noch mehr Praxisbeispiele einbauen, um alle wach zu halten.“) oder Sie entscheiden bewusst, in diesem Moment gar nichts dazu zu sagen, weil es keine Relevanz hat. So behalten Sie Ihre Integrität (Sie würden z.B. nicht lügen, falls er direkt fragt) und zugleich die Professionalität.
- Auch in Freundschaften oder Partnerschaften ist das Prinzip hilfreich. Eine enge Beziehung basiert auf Vertrauen, und Vertrauen wächst durch geteilte Authentizität – wenn beide sich echt zeigen. Dennoch bedeutet Liebe nicht, jeden Gedanken ungefiltert auszusprechen. Manchmal kann eine kleine Zurückhaltung sogar die Beziehung schützen: Etwa wenn Sie einen schlechten Tag hatten und genervt sind, müssen Sie nicht jeden bissigen Kommentar, der Ihnen durch den Kopf schießt, dem geliebten Menschen an den Kopf werfen. Sie können ehrlich sagen, dass Sie sich gestresst fühlen, ohne gleich Vorwürfe oder Kritik zu äußern, die Sie später bereuen würden. Oder wenn Ihr Partner ein Outfit trägt, das Ihnen nicht gefällt – totale Offenheit wäre, es harsch zu kritisieren; selektive Authentizität wäre, sich zu fragen, ist es wirklich wichtig, das jetzt zu sagen? Vielleicht entscheiden Sie, es für sich zu behalten, weil es die Stimmung unnötig trüben würde, oder Sie formulieren es liebevoll („Ich mag dich besonders in dem blauen Hemd, das bringt deine Augen so schön zur Geltung.“ statt „Das da sieht doof aus.“). So bleiben Sie ehrlich in dem Sinne, dass Sie nichts vortäuschen – Sie verteilen z.B. kein falsches Kompliment –, aber Sie üben Zurückhaltung, wo pure Ehrlichkeit mehr schaden als nützen würde.
Diese alltäglichen Situationen zeigen: Selektive Authentizität fördert respektvolle Kommunikation. Wer sich selektiv authentisch verhält, vermittelt anderen Wertschätzung. Denn man nimmt Rücksicht auf die Gefühle und Grenzen des Gegenübers, ohne unehrlich zu werden. Gleichzeitig wahrt man die eigene Würde, weil man sich nicht komplett verbiegt. Das Gegenüber bekommt ein echtes Bild von uns, aber ein Bild, das zur momentanen Beziehung passt.
Interessanterweise bestätigen auch psychologische Studien die Vorteile wohldosierter Offenheit: Menschen, die angemessen persönliche Informationen über sich preisgeben, werden meist sympathischer und vertrauenswürdiger eingeschätzt als solche, die entweder überhaupt nichts von sich erzählen oder ungefragt ihr ganzes Leben ausbreiten. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass wechselseitige Offenheit in kleinen Schritten ein wichtiger Baustein für Freundschaft und Intimität ist. Sobald wir spüren, dass unser Gegenüber sich authentisch zeigt und uns vertraut (aber ohne uns zu überfahren), sind wir eher bereit, selbst mehr von uns zu zeigen – eine positive Vertrauensspirale beginnt. Umgekehrt kann zu viel, zu früh („oversharing“) abschreckend wirken, während totale Verschlossenheit Nähe verhindert. Selektive Authentizität liefert somit einen praktischen Fahrplan: Nähe entsteht durch Echtheit, aber echte Nähe wächst langsam. Wir lassen andere nach und nach an unserem Inneren teilhaben, je mehr Vertrauen sich entwickelt. Dabei bleiben wir durchgehend wir selbst – nur das Tempo und die Intensität der Offenbarung variieren.
Ein weiterer Aspekt im Alltag: Selektive Authentizität ermöglicht es uns, Konflikte besser zu bewältigen. In schwierigen Gesprächen neigen manche dazu, aus „Ehrlichkeit“ impulsiv Vorwürfe rauszulassen oder verletzende Wahrheiten „um die Ohren zu hauen“. Andere vermeiden Konflikte völlig und schlucken alles herunter, zeigen also gar nicht, was sie stört. Beide Strategien führen selten zu einer guten Lösung. Ein selektiv authentischer Ansatz wäre, konstruktiv ehrlich zu sein: das Problem oder die eigenen Gefühle klar anzusprechen, aber in einer respektvollen, nicht eskalierenden Weise. Beispielsweise statt „Du interessierst dich ja nie für mich!“ könnte man sagen „Ich fühle mich in letzter Zeit etwas allein gelassen und würde mir wünschen, dass wir mehr Zeit zu zweit verbringen.“ Hierbei bleibt man authentisch (man teilt das echte Gefühl der Einsamkeit), aber man formuliert es so, dass der/die andere es eher annehmen kann, ohne sich attackiert zu fühlen. Die Chancen auf Verständnis und Lösung steigen.
Zusammengefasst unterstützt selektive Authentizität im Alltag einen angenehmen Umgang miteinander. Sie schafft eine Atmosphäre, in der Ehrlichkeit und Höflichkeit kein Widerspruch sind. Man selbst fühlt sich wohler, weil man echt sein darf, und die anderen fühlen sich wohler, weil man ihre Grenzen achtet. So entstehen vertrauensvolle Beziehungen, sei es in der Familie, unter Freund:innen oder am Arbeitsplatz.
Die Rolle von Selbstwahrnehmung, Abgrenzung und Beziehungsgestaltung
Selektive Authentizität klingt in der Theorie gut – aber wie setzt man sie konkret um? Drei psychologische Schlüsselkompetenzen spielen dabei eine große Rolle: Selbstwahrnehmung, Abgrenzung und aktive Beziehungsgestaltung.
Selbstwahrnehmung: Die eigene Gefühlswelt erkennen
Um entscheiden zu können, was man authentisch mitteilen möchte und was nicht, muss man zunächst wissen, was in einem vorgeht. Hier kommt die Selbstwahrnehmung ins Spiel – also die Fähigkeit, die eigenen Emotionen, Bedürfnisse und Gedanken achtsam zu registrieren. Viele Menschen sind es gewohnt, spontan zu reagieren, ohne vorher nach innen zu spüren. Selektive Authentizität erfordert jedoch, einen Moment innezuhalten und sich zu fragen: „Was fühle ich wirklich gerade? Was denke ich darüber? Und warum ist mir das wichtig?“ Nur wenn wir dies erkennen, können wir auch bewusst wählen, was wir davon zeigen wollen. Zum Beispiel spüren Sie vielleicht Unmut über eine Situation. Wenn Sie es gewohnt sind, sich selbst zu ignorieren, könnten Sie entweder automatisch lächeln und nichts sagen (weil Sie den Unmut gar nicht richtig wahrnehmen) oder impulsiv lospoltern (ohne das Gefühl vorher zu benennen und zu sortieren). Mit guter Selbstwahrnehmung nehmen Sie den Unmut bewusst wahr – vielleicht als Ärger oder Enttäuschung – und können dann gezielt entscheiden, wie Sie damit umgehen.
Emotionale Achtsamkeit ist hier hilfreich: also sich selbst regelmäßig zu fragen „Wie geht es mir gerade? Was beschäftigt mich innerlich?“ Je besser die Selbstwahrnehmung, desto feiner können Sie abstufen, was authentisch mitzuteilen ist. Vielleicht merken Sie z.B.: „Ich bin nicht wirklich wütend auf meinen Freund, sondern eigentlich traurig und unsicher.“ Diese Erkenntnis ermöglicht eine ganz andere authentische Kommunikation (nämlich Verletzlichkeit zu zeigen statt mit Vorwürfen um sich zu werfen). Selbstkenntnis – zu wissen, wer man ist und was man will – bildet somit die Basis, um authentisch sein zu können, ohne sich dabei zu verirren. Wer die eigenen Werte und Gefühle klar hat, strahlt automatisch mehr Echtheit aus, ohne ständig alles aussprechen zu müssen. Manchmal reicht schon die innere Authentizität (sich selbst treu sein), die dann nonverbal oder indirekt spürbar wird.
Abgrenzung: Gesunde Grenzen setzen und wahren
Abgrenzung bedeutet, die Linie zu ziehen, wo das eigene Selbst endet und der Einfluss der anderen beginnt. Für selektive Authentizität ist das essenziell. Man muss Nein sagen können, wenn etwas die eigene Grenze überschreitet – sei es ein zu persönliches Thema, das man (noch) nicht teilen möchte, oder das Bedürfnis, etwas Raum für sich zu haben. Gleichzeitig gehört zur Abgrenzung auch, die Grenzen anderer zu respektieren.
In der Praxis heißt das: Sie dürfen entscheiden, wem Sie was von sich zeigen. Nicht jeder Mensch hat das Recht auf dieselbe Tiefe an Einblick in Ihr Inneres. Es ist völlig legitim (und gesund), etwa Arbeitskolleg:innen gegenüber mehr Distanz zu halten als engen Freund:innen. Selektive Authentizität erlaubt Ihnen, authentisch zu bleiben, auch wenn Sie weniger von sich offenbaren: Sie sind dann einfach eine introvertiertere oder vorsichtigere Version Ihrer selbst, was genauso echt ist. Diese Fähigkeit, sich abzugrenzen, schützt Ihre Privatsphäre und verhindert, dass Sie sich verletzlich machen in einem Umfeld, das damit nicht achtsam umgehen würde.
Ein Beispiel: Wenn ein Bekannter neugierige Fragen zu Ihrem Liebesleben stellt, dürfen Sie freundlich, aber bestimmt die Grenze ziehen – selektiv authentisch wäre z.B. zu sagen: „Ich weiß, deine Fragen sind nicht böse gemeint. Ich halte mein Privatleben aber gerne etwas zurück – ich hoffe, du verstehst das.“ Hier lügen Sie nicht, sondern stehen ehrlich dazu, dass Sie etwas nicht teilen wollen. Das Gegenüber erkennt Ihre Echtheit in der Haltung und zugleich Ihre Konsequenz in der Abgrenzung. Diese Art von Kommunikation, klar und echt, aber grenzensetzend, wird meist respektiert – oft mehr, als wenn man aus Höflichkeit doch Auskunft geben würde und sich dabei unwohl fühlt.
Abgrenzung heißt auch, verantwortlich für die eigenen Gefühle zu bleiben. Man teilt seine Emotionen mit, aber erwartet nicht zwangsläufig, dass andere sie „lösen“. Wenn Sie selektiv authentisch sagen: „Ich bin gerade ziemlich erschöpft und brauche heute etwas Ruhe“, dann kommunizieren Sie Ihre Wahrheit und ziehen eine Grenze (Sie brauchen Ruhe), ohne jemandem einen Vorwurf zu machen. Die anderen wissen, woran sie sind, und Sie haben sich geschützt, bevor Ihre Erschöpfung in Gereiztheit umschlägt.
Gesunde Grenzen machen Authentizität überhaupt erst möglich. Denn ohne Grenzen würden wir entweder alles rauslassen (was, wie besprochen, problematisch sein kann) oder aus Angst vor Grenzverletzungen gar nichts mehr zeigen. Wenn wir aber wissen: „Ich darf Grenzen setzen und trotzdem ich selbst bleiben,“ fällt es leichter, die passende Dosis Offenheit zu finden.
Beziehungsgestaltung: Echtheit als Fundament für Tiefe und Vertrauen
Schließlich ist Beziehungsgestaltung ein Bereich, in dem selektive Authentizität ihre ganze Kraft entfaltet. Beziehungen – sei es Freundschaft, Partnerschaft, Familie oder Kollegialität – gedeihen am besten, wenn sie auf einer authentischen Verbindung beruhen. Das heißt, beide Seiten zeigen einander ihr echtes Selbst in einem Ausmaß, das dem jeweiligen Vertrauenslevel entspricht, und gestalten so gemeinsam die Beziehung.
Selektive Authentizität hilft aktiv dabei, Beziehungen schrittweise zu vertiefen. In der Anfangsphase einer Beziehung ist Zurückhaltung normal: Man testet vorsichtig, wie der andere reagiert, und enthüllt Stück für Stück mehr von sich. Hier selektiv authentisch zu sein bedeutet, weder eine falsche Rolle zu spielen (also beim Date z.B. nicht Interessen vorzutäuschen, die man gar nicht hat), noch gleich beim ersten Treffen die gesamte Lebensgeschichte auszubreiten. Man zeigt realistische, positive Seiten von sich und beobachtet, wie der andere darauf eingeht. Nach und nach kann man dann mehr von seiner verletzlichen Seite zeigen – vielleicht ein persönliches Erlebnis, Sorgen, Träume – immer im Austausch mit dem, was der andere teilt. Diese gegenseitige Offenbarung in Etappen schafft eine solide Vertrauensbasis. Jeder neue Baustein an Ehrlichkeit, der gut aufgenommen wird, stärkt die Beziehung. Man merkt: „Der andere mag mich, obwohl er dies und jenes Echte von mir weiß – vielleicht sogar weil ich echt bin.“ Das ermutigt, noch mehr man selbst zu sein.
In langfristigen Beziehungen verhindert selektive Authentizität, dass Routine zu Entfremdung führt. Partner, die über Jahre zusammen sind, müssen nicht alles aneinander toll finden – aber sie sollten aufrichtig miteinander umgehen. Hier heißt selektiv authentisch sein zum Beispiel: Wenn etwas an meinem Partner mich stört, spreche ich es respektvoll an, anstatt es dauerhaft zu verschweigen (was zu innerem Groll führen würde). Und gleichzeitig teile ich nicht jede kleine Unzufriedenheit als Kritik mit, sondern überlege, ob es wirklich wichtig ist. Ebenso darf man in einer langjährigen Freundschaft seine Meinung ehrlich sagen, aber man formuliert sie liebevoll. Man weiß auch, wann es besser ist, einfach zuzuhören, statt die ungefilterte Wahrheit „rauszuhauen“. Diese Feinfühligkeit sorgt dafür, dass die Beziehung lebendig und echt bleibt, ohne durch unnötige Konflikte erschüttert zu werden.
Selektive Authentizität fördert zudem unsere soziale Kompetenz. Wer sie beherrscht, der kann sowohl Small Talk meistern, ohne sich verstellen zu müssen, als auch tiefe Gespräche führen, ohne dabei die Grenzen anderer zu verletzen. Man entwickelt ein Gespür für Kontext: In einer lockeren Runde erzählt man vielleicht heitere Anekdoten aus echtem Erleben, während man ernsthafte Gefühle für vertraulichere Gespräche aufhebt. All das bedeutet nicht, dass man unterschiedliche Personen spielt – man bleibt stets derselbe Mensch, aber anpassungsfähig und rücksichtsvoll. Letztlich gestaltet man seine Beziehungen aktiv mit: Durch die Wahl, wann man offen ist und wann man schweigt, nimmt man Einfluss darauf, wie eng oder distanziert eine Beziehung wird. Selektive Authentizität ist somit ein Instrument, um genau das richtige Maß an Nähe zu schaffen, in dem man sich wohlfühlt.
Fazit: Echtheit mit Balance – ein Gewinn für uns selbst und andere
Das psychologische Konzept der selektiven Authentizität zeigt, dass Authentizität kein „Alles-oder-Nichts“ sein muss. Es bietet eine balancierte Herangehensweise an das altbekannte Dilemma zwischen Ehrlichkeit und Höflichkeit, zwischen man selbst sein und sich anpassen. Indem wir authentisch bleiben, aber gezielt entscheiden, was wir wann und wem von uns zeigen, können wir authentische Beziehungen aufbauen, ohne uns dabei zu exponieren oder zu verbiegen.
Für Klient:innen in der Psychotherapie kann dieses Konzept befreiend und stärkend sein: Sie lernen, sich selbst zu spüren und auszudrücken, aber auch sich zu schützen, wenn nötig. Es hilft ihnen, sowohl in der Therapie als auch draußen im echten Leben gesunde Grenzen zu setzen und trotzdem Verbindung zu anderen aufzubauen. Selektive Authentizität erinnert uns daran, dass wir das Recht haben, unsere persönliche Wahrheit auszusprechen – und ebenso das Recht, manches davon für uns zu behalten, bis der richtige Moment gekommen ist.
Im Alltag fördert die Praxis selektiver Authentizität ein Klima von Vertrauen und Respekt. Unsere Mitmenschen erleben uns als aufrichtig und zuverlässig, weil sie spüren, dass das, was wir sagen, echt gemeint ist. Gleichzeitig fühlen sie sich von uns ernst genommen, weil wir nicht blind alles ausagieren, was in uns vorgeht, sondern auch ihre Perspektive berücksichtigen. Das Ergebnis sind Beziehungen, in denen man man selbst sein darf, die aber gleichzeitig harmonisch und belastbar sind. Konflikte lassen sich besser lösen, Missverständnisse reduzieren sich, da sowohl Offenheit als auch Sensibilität vorhanden sind.
Letztlich ist selektive Authentizität eine Kunst der Selbstoffenbarung: die Kunst zu wissen, wer ich bin, und weise zu entscheiden, wie ich dieses Selbst in die Welt bringe. Sie verlangt etwas Übung – man muss sich selbst gut kennenlernen (Selbstwahrnehmung), mutig ehrlich sein (Authentizität) undmutig„Nein“ sagen können (Abgrenzung). Doch die Mühe lohnt sich. Wer selektiv authentisch lebt, wird feststellen, dass Beziehungen ehrlicher und zugleich entspannter werden. Man darf echt sein, ohne ständig auf der Hut sein zu müssen, weil man gelernt hat, sich weder zu verstecken noch unnötig angreifbar zu machen.
Die selektive Authentizität ist kein Widerspruch in sich, sondern ein Zeichen von sozialer und emotionaler Intelligenz. Sie ermöglicht es uns, aufrechter durchs Leben zu gehen, mit dem guten Gefühl, uns selbst und anderen gerecht zu werden. In einer Welt, die oft entweder totale Selbstdarstellung oder totale Selbstverleugnung fordert, bietet sie einen menschenfreundlichen dritten Weg: ehrlich, aber mit Herz und Verstand.
Quellen
- Cohn, R. C. (1975). Sei authentisch und selektiv in deinen Kommunikationen… – Grundsatz der Themenzentrierten Interaktion (TCI). (Zitat wiedergegeben nach: Farau & Cohn, 1984). – Ruth C. Cohn prägte den Begriff der selektiven Authentizität. Diese Hilfsregel betont, dass alles Gesagte echt sein soll, aber nicht alles Echte gesagt werden muss.
- Amendt-Lyon, N. (2000). Authentizität, selektive. In G. Stumm & A. Pritz (Hrsg.), Wörterbuch der Psychotherapie (S. 55–56). Wien: Springer. – (Definition des Begriffs selektive Authentizität und historische Einordnung in Psychotherapie und TZI nach Cohn).
- Schmidbauer, W. (1999). Wa(h)re Gefühle: die selektive Authentizität in der Therapie. Journal für Psychologie, 7(4), 17–33. – (Diskussion über den professionellen Umgang mit Gefühlen in der Psychotherapie; zeigt die Notwendigkeit von Echtheit mit Maß für Therapeut:innen auf).
- Collins, N. L., & Miller, L. C. (1994). Self-disclosure and liking: a meta-analytic review. Psychological Bulletin, 116(3), 457–475. – (Empirische Metaanalyse, die zeigt, dass dosierte Selbstoffenbarung zu größerer Sympathie und Vertrauen in sozialen Beziehungen führt, während zu viel oder zu wenig Offenbarung weniger positive Effekte hat).
- Eberwein, W. (2019). Was versteht man unter der „selektiven Authentizität des Therapeuten“? (Blogbeitrag). – (Praxisnaher Artikel eines Psychotherapeuten über die Balance zwischen authentischem Reagieren und professioneller Filterung im Therapiesetting, mit Beispielen).
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Patrick Raulin
Als Heilpraktiker für Psychotherapie und Gestalttherapeut (IGE) unterstütze ich Menschen bei Depressionen, traumatischen Erlebnissen, Angststörungen sowie Anpassungsstörungen. In meiner Praxis für Psychotherapie Rosenheim (HeilprG) & Coaching begleite ich zudem auch im beruflichen Kontext, bei zwischenmenschlichen und strukturellen Herausforderungen.
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